Nachts ist alles anders
Zwei Wochen unterwegs mit der Freiwilligen Feuerwehr im Landkreis Northeim
Eine Reportage von Christan Vogelbein
Wenn Feuerwehrleute zu einem Unfall oder Brand gerufen werden, ist der Anblick belastend. Adrenalin und Training helfen dabei, unter Hochspannung Menschen zu retten. Doch was ist, wenn es dunkel wird und die Nacht hereinbricht? Wenn nach dem großen Knall plötzlich alles still und schwarz ist? Unterwegs mit Kreisbrandmeister Bernd Kühle durch die Nacht.
Der erfahrene Kreisbrandmeister schildert eine Durchschnittsnacht: Falsch auslösende Brandmeldeanlagen oder Türöffnungen leuchten dann auf den Meldern auf.
In der Nacht zum 24. Juli ist aber alles anders. Um 0.23 Uhr klingelt das Handy. „Wir haben ein brennendes Haus am Mühlenanger“, meldet sich der Kreisbrandmeister. Was jetzt läuft, ist die abgesprochene Routine. Gemeinsam geht es zum Einsatzort. Eine Drehleiter biegt mit in die Straße, als das Einsatzfahrzeug des Kreisbrandmeisters mit Blaulicht durch Northeim rast.
Aus den Lüftungsschächten des Treppenhauses dringt dunkler Qualm, am Fenster steht eine Frau. Durch die Stille der Nacht schneidet nur das Kreischen der Rauchmelder. Die Stimmung ist hektisch, aber nie chaotisch. Im Haus wohnen sechs Parteien, eine ist im Urlaub, zwei sind schon draußen. Die Drehleiter fährt das Fenster an, rettet die Frau. An der Eingangstür machen sich die ersten Helfer unter Atemschutz bereit, Kreis- und Ortsbrandmeister besprechen intensiv die nächste Aktion.
„Verrückt“
„Die müssen da gleich rein“, sagt Kühle. Ins Dunkle, ins Verrauchte, ins Unbekannte. „Wenn andere raus rennen, rennen wir rein. Feuerwehrleute kommen mit einer positiven Macke auf die Welt. Und das ist gut so“, sagt er später. Im Hinterhof schlagen Flammen meterhoch aus den Kellerräumen. Der Kreisbrandmeister wird lauter: „Vollalarm!“ Wenige Sekunden später heulen im Stadtgebiet und einigen Dörfern die Sirenen. Jetzt weiß jeder Northeimer, dass etwas nicht stimmt. Die Helfer, Ehrenamtliche mit Berufen, Familien und Schlafzeiten, sind im Tunnel: Routine, Training, Adrenalin; die Mischung sorgt dafür, dass innerhalb weniger Minuten Schläuche liegen, Wasser läuft und erste Lichtmasten stehen.
Die Männer und Frauen, die mit Masken und Atemluft ins Haus gehen, wechseln sich ab. Sie tragen bis zu 30 Kilogramm Ausrüstung an sich. Getränke stehen bereit, Wasser und Apfelsaft, Sitzbänke werden aufgestellt. Eine junge Feuerwehrfrau notiert genau Einsatzzeiten, Menge der Druckluft und Sicherung der Masken. Die nächste Mannschaft wartet auf ihren Gang durch das schwarze, verrußte Haus. Am Ende stehen fast 100 Feuerwehrleute am Haus, ein Drittel mit Atemschutz. Mehrere Rettungswagen sind vor Ort. „Zum Glück“, sagt der zuständige Leiter, „musste nur eine Person zur Untersuchung ins Krankenhaus“. Inzwischen ist auch der Bürgermeister am Brandort. Er wird bei größeren Fällen per Telefon alarmiert, informiert sich über den Status, fragt, wie es den Bewohnern geht. Auch Schaulustige und Nachbarn sind auf der Straße, halten Distanz. Eine ältere Dame wirkt geschockt, hält die Hand vor den Mund und schüttelt mit dem Kopf.
Als alle Personen aus dem Haus waren, sinkt auch bei Kühle und Kollegen der Stresspegel. Die Aktionen werden langsamer, überlegter. Der Keller wird mit Löschschaum ausgefüllt, die Stadtwerke drehen den Strom und das Gas ab, die Suche nach der Brandquelle beginnt. Noch mehr als eine Stunde nach der Meldung dringt dicker Qualm aus den Fenstern. Ein großer Ventilator lüftet die Räume. Das Adrenalin verlässt den Körper, die Spannung nimmt ab: Die Feuerwehrleute erzählen sich Witze, lachen. Die verschwitzten Gesichter glänzen im Scheinwerferlicht, es riecht nach verkohltem Plastik und nasser Tapete. Eindrücke, die auch die Feuerwehrleute mit nach Hause nehmen.
Kühle war auch dabei, als in der Nacht zum 15. November 1992 kurz nach halb zwei die Sirenen im gesamten Landkreis heulten. Wenige Minuten zuvor war am Bahnhof ein Zug entgleist. In dieser Nacht starben elf Menschen, mehr als 50 wurden zum Teil schwer verletzt. Der heutige Kreisbrandmeister war damals einer der ersten vor Ort. „Es war absolut still“, erinnert er sich. Die Dunkelheit umhüllte ein unbeschreibliches Chaos. Fast 1.000 Helfer waren im Einsatz. Der Einsatz war bis heute beispiellos – und hatte weitreichende Folgen für die zukünftige Feuerwehrarbeit.
„Nachts ist alles anders“ – Die Multimedia-Reportage
Teil 2: der Crash
Wenn Feuerwehrleute zu einem Unfall oder Brand gerufen werden, ist der Anblick belastend. Adrenalin und Training helfen dabei, unter Hochspannung Menschen zu retten. Doch was ist, wenn es dunkel wird und die Nacht hereinbricht? Wenn nach dem großen Knall plötzlich alles still und schwarz ist: HALLO begleitet Kreisbrandmeister Bernd Kühle durch die Nacht.
Was die Ehrenamtlichen zu sehen bekommen, ist oft belastend. Im Nachgang des großen Zugunglücks wurde die psychologische Betreuung verbessert und erweitert. Nach solchen Einsätzen sitzt das Team im Anschluss im Feuerwehrhaus zusammen, redet, lässt die Spannung langsam aus dem Körper weichen. In der Nacht hinterlassen vor allem schwere Verkehrsunfälle einen bleibenden Eindruck. Der Landkreis Northeim liegt zentral an Bundesstraßen und der Autobahn 7.
Keine Routine
Die leere der Straße lässt Autofahrer überheblich werden, die Dunkelheit setzt dem ein abruptes Ende. Im Jahr 2014 ist auf den Straßen im Landkreis kein Mensch ums Leben gekommen. Im ersten Halbjahr 2015 waren es schon acht. In der Nacht des 27. Juli kam ein weiterer hinzu. Zwischen Moringen und Höckelheim ist ein junger Mann mit seinem Golf frontal gegen einen Baum gefahren. Kreisbrandmeister Bernd Kühle war der erste am Unfallort. Schon auf dem Weg dorthin gehen dem erfahrenen Feuerwehrmann Dinge durch den Kopf: Wie sieht es dort aus? Wie schwer sind die Verletzungen? Wie viele sind im Auto? Routine gibt es auch nach 30 Jahren nicht.
Die Straßen sind leer, Martinshorn braucht es nicht. Vor wenigen Minuten war die Stimmung noch locker: ein abgebrannter Baum in einem Garten – trotz Regen und Wind – hatte für Erheiterung gesorgt. Das ist längst vergessen. Mit hoher Geschwindigkeit rast der BMW mit Blaulicht über den Asphalt. In der Ferne sind Warnblinker zu erkennen. Es ist die angekündigte Stille. Die Zeugen, die die Feuerwehr gerufen haben, sind geschockt, winken hecktisch mit den Armen. Kühle steuert direkt das Unfallopfer an, der Reporter rennt mit einem Feuerlöscher hinterher. Das Auto ist völlig zerstört, Teile sind meterweit verteilt, es qualmt und riecht und zischt. Schnell ist klar: der Fahrer ist tot, er hatte keine Chance.
Eine lange Nacht
Innerhalb weniger Minuten sind Rettung, Polizei und die großen Feuerwehrautos am Unfallort. Lichtmasten werden aufgestellt, es wird taghell. Erst das rattern der Stromgeneratoren durchbricht die Stille der Nacht und das Schluchzen der Zeugen.
Die Nacht wird lang. Das Feuer im Motorraum – oder dem, was davon noch übrig ist – war schnell gelöscht. Jetzt heißt es warten. Auf die Polizei, auf die Unfallaufnahme, auf den Leichenwagen. Vier lange Stunden dauert es, bis der Körper des Toten aus dem Fahrzeug befreit werden kann – oder darf. Die Wartezeit nutzen die freiwilligen Helfer für Gespräche. „Das ist enorm wichtig. Darüber reden, hilft“, sagt Kühle. Dabei ist auch mal ein Lachen oder ein Witz aus dem Alltag zu hören. Als die Aufnahme abgeschlossen ist, greifen die Helfer wieder zu Handschuhen und Werkzeug, es wird leise, viele wirken hoch konzentriert.
Bei der Bergung achtet Northeims Ortsbrandmeister
Bernard Krzepina auf die Sicherheit seiner Kameraden. „Das lange Warten macht mürbe“, sagt Kreisbrandmeister Kühle. Denn das, was folgt, ist immer frustrierend.
Der leblose Körper ist eingeklemmt zwischen Motorblock und Fahrersitz. Der silberne Golf ist völlig verformt, die hohe Geschwindigkeit vor dem Aufprall lässt sich nur erahnen. Die Werkzeuge der Feuerwehr arbeiten mit hoher Last auf kleiner Fläche. Nur langsam kommen sie ihrem Ziel näher, der Bestatter wartet bereits auf die Übergabe.
Der Tiefpunkt
Und da ist sie wieder: die Stille. Entsprechend ist die Stimmung am Tiefpunkt angekommen. Am Horizont endet die Nacht mit blauem Schimmer und den ersten Sonnenstrahlen. „Das Leben geht weiter“, verabschieden sich die ersten. Erst sieben Stunden nach der Alarmierung fahren die letzten Fahrzeuge zurück zum Stützpunkt.
An ein paar Stunden Schlaf denkt jetzt niemand mehr.
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